Während der Bauphase des Krankenhauses in Al Mihlaf lebte ich teilweise im Dorf. Nach der Schule kamen regelmäßig die Kinder bei mir vorbei. Ich lernte arabisch. So bat ich einen der Jungs, er ging in die dritte Klasse, mir doch aus dem Kapitel 1 meines Lehrbuches etwas vorzulesen. Er war total überfordert. Nicht einmal das kleine Wort „ich = ana“ konnte er lesen. Auch der Lehrer kam des Öfteren bei mir vorbei. So habe ich ihn natürlich gefragt, ob ich denn mit diesem Jungen ein "Dummerle" erwischt habe. Er: „Nein, das ist der Klassenbeste:“ Ich: „Aber der kann ja nicht einmal „ana“ lesen!“ Der Lehrer lachend: „Oh der hat ja noch 10 Jahre Zeit lesen zu lernen!“
Zu Hause habe ich dieses Erlebnis meinen Verwandten und Freunden erzählt. Wir beschlossen Abhilfe zu schaffen. Ist doch Bildung der Jungend der erste Weg zur Entwicklung eines Landes. Wir brachten auf unsere eigenen Kosten die ersten 6 Kinder nach Taiz in eine Privatschule.
Privatschule, weil die Klassenstärken in Taiz zwischen 80 und 100 Kindern betrugen und die Lehrer schlecht ausgebildet waren.
In unserer Privatschule waren nur 15 bis 20 Kinder in der Klasse und die Lehrer hatten alle in England studiert. Es gab Tische und Stühle, eine richtige Tafel und Schulbücher sowie sonstiges Unterrichtsmaterial.
Nach zwei Jahren meinte einer meiner Cousins jedoch: „Warum gründen wir nicht einen Verein? Wir sind mehr als 7 Personen, also können wir dies tun, dann können wir unsere Spenden beim Finanzamt absetzen!“
So gründeten wir 2003 die „Jemen Kinderhilfe e.V.“
Sadeq, von dem ich zu dieser Zeit zufällig erfuhr, dass er der Scheich seines Clans ist, wurde der Ziehvater der Kinder.
Alles lief hervorragend. Doch es gab ein Problem: jedes Mal, wenn ich von Deutschland nach Taiz kam, war wieder ein Kind mehr in der Gruppe. Das bedeutete natürlich auch wieder Mehrkosten. Unser Geld war knapp! Ich bat Scheich Sadeq eindringlich doch bitte ehe er ein neues Kind aufnimmt mit mir zu reden. Das versprach er, doch die Gruppe wuchs. Er meinte: „Das schaffst Du schon!“
Ja wir haben es geschafft! Es waren immer Waisen, Halbwaisen, behinderte oder misshandelte Kinder, die zu uns kamen. Ich selbst habe es auch nie fertig gebracht ein Kind wieder wegzuschicken.
Die Jungs lebten alle bei uns in der kleinen Wohnung. Es gab jedoch auch Mädchen. Der Moral entsprechend konnten sie nicht mit den Jungs zusammenwohnen. Scheich Sadeq fand immer eine Familie, die bereit war gegen eine kleine Gebühr ein Mädchen aufzunehmen.
Berührt hat mich besonders das Schicksal eines Babys. Scheich Sadeq hatte beobachtet, dass ein Straßenmädchen ein Neugeborenes nur mit Wasser fütterte. Er brachte Mutter und Kind in ein Krankenhaus. Das Baby konnte gerade noch gerettet werden. Die Mutter verschwand auf Nimmer Wiedersehen, war nicht mehr auffindbar. Der Arzt des Krankenhauses rief später an, Scheich Sadeq solle seinen Sohn abholen, dem es jetzt wieder gut gehe. Scheich Sadeq blieb nichts anderes übrig, als auch dieses arme Geschöpf zu uns zu holen. Doch jetzt protestierte Hanan. Sie sah sich überfordert auch noch ein Baby aufzuziehen. Doch es wurde eine Witwe gefunden, die sich bis heute um diesen einst kleinen Jungen rührend kümmert.
Dann war da noch Nuri mit einer kranken Hüfte, er lebt heute in Deutschland. Arafat mit einem Klumpfuß, Hadija die durch eine Handgranate beide Beine verloren hatte und Mohanned der einen Gehirntumor hatte, der im Krankenhaus in Ingolstadt erfolgreich operiert werden konnte. Später kam noch Ali schwer krank nach Deutschland, um in Ingolstadt behandelt zu werden. Mohanned und Ali waren jeweils 4 Monate hier und lebten bis zur völligen Genesung bei mir. Das sind nur ein paar wenige Schicksale, die ich hier nennen möchte.
Inzwischen sind aus unseren kleinen Jungs junge Männer geworden. Sie haben das Abitur gemacht, studiert und haben ihre Examen in Pharmazie, Medizin, BWL und Pädagogik an verschiedenen Universitäten mit Bravour abgelegt. Einer der Jungs studiert an der Islamischen Universität Jura, allerdings handelt es sich hier um das Studium der Sharia. Doch ich bin optimistisch. Er war immer ein offener Junge und ich denke er wird nicht vergessen, woher die Möglichkeit zu seinem Studium kommt. Ich hoffe auf seine Toleranz. ALaw wird dieses Jahr noch sein Examen der Zahnmedizin ablegen. Bisher war er immer Jahrgansbester! Es folgen weitere BWLer und eine Medizinstudentin.
Ich selbst war bis 2013 jedes Jahr drei Monate im Jemen. Der Krieg begann, meine Wohnung ist zerbombt. Es gibt derzeit keine Möglichkeit wieder in den Jemen zu fliegen.
Die Bilder, die ich aus Taiz bekomme, sind entsetzlich. Viele Schulen, Krankenhäuser, Wohnhäuser und Fabriken sind zerstört. Entsetzlich viele Menschen wurden getötet, ermordet, gefoltert, missbraucht oder verletzt. Scheich Sadeq konnte über ein Jahr lang das Haus nicht verlassen. Er war durch die Zusammenarbeit mit uns Deutschen in allerhöchster Gefahr.
Er hat bis 2019 die Kinder nicht verlassen. Doch dann wurde sein Gesundheitszustand so schlecht, dass ihn sein ältester Sohn über Schleichwege nach Aden und von dort nach Kairo brachte. Am 22.03. 2020 verstarb er dort.
Zunächst war dadurch alles in Frage gestellt. Doch seine Söhne sehen sich verpflichtet in seinem Gedenken seine Arbeit in seinem und in unserem Sinne weiterzuführen.
Es kamen immer mehr Waisen, Kriegswitwen mit Kindern und Hungernde an die Tür der Wohnung in Taiz. Niemand wurde abgewiesen. Doch die Wohnung wurde zu klein für all diese Menschen. So suchten wir eine größere Wohnung. Doch welcher Hausbesitzer will schon so viele Kinder in seinem Haus haben?
Wir sahen uns gezwungen ein Haus zu kaufen. Ali, er hatte inzwischen sein BWL-Studium abgeschlossen, fand endlich ein geeignetes, erschwingliches Haus. Allerdings war nur das erste Stockwerk ausgebaut. So mussten wir ein zweites Stockwerk aufbauen.
Die großen Jungs haben jeden Tag nach der Schule oder dem Besuch der Universität zwei Stunden am Bau gearbeitet. Ende 2020 fand der Umzug statt. Jetzt leben dort über 70 Kriegswaisen, 15 Kriegswitwen und 9 alte kranke Männer, die alles durch den Krieg verloren haben.
Ali führt dieses Haus gemeinsam mit Hanan. Er ist ein zuverlässiger, ehrlicher und engagierter Partner für uns geworden. So können wir ohne Bedenken Spendengelder an eine Bank in Taiz überweisen. Ich schreibe jeweils am Monatsende eine Mail an die Bank mit der Bitte, den von der Vorstandschaft in Deutschland beschlossenen Betrag auf das Konto von Ali zu transferieren. Er bezahlt dann sämtliche anfallenden Rechnungen des Kinderhauses und leitet den benötigten Betrag für den Unterhalt des Krankenhauses in Al Mihlaf an unseren Jungen Arzt Arafat weiter.
Ich bekomme jeden Monat die Aufstellung der ausgegebenen Summe gemailt und einmal pro Jahr erhalte ich ein Statement der Bank über sämtliche Eingänge und Ausgaben.
Arafat war es, der mich 2021 um Hilfe bat, weil immer mehr unterernährte Kinder zu ihm gebracht wurden und er nicht helfen konnte. Er mailte mir eine Liste mit 300 Familien, die dort oben in den Bergen von Al Barazza in Armut leben und deren Kinder zum Teil schon Blätter von den Bäumen gegessen hatten.
Jetzt liefern wir, nach dem Beschluss der Vorstandschaft, monatlich ein Lebensmittelpaket mit Mehl, Reis, Bohnen oder Linsen, Zucker und Öl an diese 300 Familien im Wert von 50 €.
Durch die Lebensmittellieferungen, die von unseren großen Jungs organisiert werden, sind wir auch auf Kranke, die völlig unversorgt waren, aufmerksam geworden. Arafat hat nun gemeinsam mit einer Frau eine Art Sozialdienst aufgebaut. So hoffen wir auch diesen Menschen helfen zu können. Natürlich ist das alles ein gewaltiger Kraftakt für uns, von dem wir nicht wissen, wie lange wir ihn durchstehen können.
Inzwischen ist der Jemen laut UNHCR und UNO das ärmste Land der Welt. Laut diesen Quellen stirbt dort alle 10 Minuten ein Kind an den Folgen des Hungers. Man geht davon aus, dass eine ganze Generation, körperlich und geistig unterentwickelt bleiben wird und psychisch geschädigt ist.
Ein Frieden ist im Augenblick nicht absehbar.
Wir versuchen zu helfen. Ohne die Hilfe von vielen Spendern ist dies jedoch nicht möglich. Darum bitten wir Sie um Ihre Hilfe. Es ist Hilfe, die ankommt und unmittelbar wirkt!